Was ist… Selbstwahrnehmung?

Ihr Tag verläuft bisher gut, doch plötzlich bemerken Sie, dass sich langsam Kopf- und Nackenschmerzen ausbreiten. Sie fühlen, dass Ihre Schultern hochgezogen sind und jetzt erst fällt Ihnen auf, wie angespannt Sie sind… Das Gefühl kennen Sie?
Sie haben gerade einen Teil Ihrer Selbst wahrgenommen. Und Selbstwahrnehmung ist noch viel mehr.

Selbstwahrnehmung bedeutet, die eigenen inneren Zustände, also Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Verhaltensmuster, bewusst wahrzunehmen, ohne sie sofort zu bewerten oder zu verdrängen.
Sie ist ein zentraler Bestandteil der Selbstreflexion und ermöglicht es, die Verbindung zwischen innerem Erleben und äußerem Verhalten besser zu verstehen, also zu erkennen, wie sich die inneren Zustände auf das eigene Handeln und Erleben auswirken.


Zur Selbstwahrnehmung gehören dazu:

-> die Körperwahrnehmung

– bedeutet, die Signale, Empfindungen und Zustände des eigenen Körpers im Moment bewusst zu spüren und richtig einzuordnen.
Es geht darum, feine körperliche Hinweise wahrzunehmen, die oft im Hintergrund bleiben, aber wichtige Informationen über den aktuellen Zustand liefern.

Das beinhaltet zum Beispiel:

  • Spannungszustände erkennen – bemerken, ob Muskeln angespannt, verhärtet oder locker sind.
  • Energielevel einschätzen – spüren, ob Sie sich wach, müde, erschöpft oder kraftvoll fühlen.
  • Körperempfindungen registrieren – Wärme, Kälte, Kribbeln, Schwere oder Leichtigkeit bewusst wahrnehmen.
  • Körpersignale deuten – etwa Hunger, Durst, Harndrang, Herzklopfen oder flache Atmung erkennen und mit der Situation in Verbindung bringen.
  • Veränderungen im Körper bemerken – Unterschiede in Haltung, Beweglichkeit oder Schmerzintensität im Tagesverlauf wahrnehmen.

Eine gut entwickelte körperliche Selbstwahrnehmung hilft, Überlastung oder gesundheitliche Probleme frühzeitig zu erkennen, bewusst gegenzusteuern und die eigenen Bedürfnisse besser zu erfüllen. Sie ist die Basis für Selbstfürsorge, gezieltes Training und effektive Stressbewältigung.

-> die emotionale Wahrnehmung

– bedeutet, die eigenen Gefühle im Moment bewusst zu erkennen, zu benennen und ihre Entstehung zu verstehen.
Es geht nicht nur darum zu wissen, dass Sie etwas fühlen, sondern auch was Sie genau fühlen und warum.

Dazu gehört zum Beispiel:

  • Gefühle identifizieren – zu unterscheiden, ob Sie gerade wütend, enttäuscht, nervös, erleichtert oder dankbar sind.
  • Gefühlsintensität spüren – wahrzunehmen, ob ein Gefühl schwach, mittel oder sehr stark ist.
  • Auslöser erkennen – zu verstehen, welche Situation, Erinnerung oder Interaktion das Gefühl ausgelöst hat.
  • Veränderungen bemerken – festzustellen, wie sich Gefühle im Laufe eines Tages oder einer Situation wandeln.

Eine ausgeprägte emotionale Selbstwahrnehmung hilft, bewusster und angemessener zu reagieren, statt impulsiv oder automatisiert zu handeln. Sie ist auch eine wichtige Voraussetzung, um eigene Bedürfnisse klarer zu erkennen und anderen authentisch mitzuteilen.

-> die kognitive Wahrnehmung

– bedeutet, sich der eigenen Gedanken, Gedankenmuster, Überzeugungen und Bewertungen, aber auch Befürchtungen und Selbstkritik bewusst zu werden.
Es geht darum, nicht nur zu denken, sondern den eigenen Denkprozess zu beobachten und zu verstehen, wie Gedanken entstehen, sich wiederholen oder das Verhalten beeinflussen.

Dazu gehört zum Beispiel:

  • Gedankeninhalte erkennen – wahrnehmen, worüber Sie gerade nachdenken, z. B. Zukunftssorgen, Planungen, Erinnerungen.
  • Denkstile bemerken – feststellen, ob Sie eher lösungsorientiert, kritisch, optimistisch oder pessimistisch denken.
  • Selbstgespräche beobachten – darauf achten, ob der innere Dialog unterstützend („Das schaffe ich“) oder abwertend („Das wird nichts“) ist.
  • Gedankenmuster identifizieren – wiederkehrende Grübelschleifen, Schwarz-Weiß-Denken oder Katastrophisieren erkennen.
  • Zusammenhang zu Emotionen und Verhalten verstehen – merken, wie bestimmte Gedanken Gefühle verstärken oder Handlungen beeinflussen.

Eine ausgeprägte kognitive Selbstwahrnehmung ist wichtig, um unbewusste Denkmuster zu hinterfragen, eingefahrene Gedankenschleifen zu durchbrechen und bewusster zu entscheiden, welche Gedanken Aufmerksamkeit verdienen und welche Sie loslassen können.

-> die Verhaltenswahrnehmung

– bedeutet, das eigene Handeln und auch die typischen Reaktionsmuster im Moment bewusst zu registrieren. Es geht darum zu erkennen, was Sie tun, wie Sie es tun und warum Sie es in dieser Form tun.

Dazu zählen zum Beispiel:

  • Automatische Gewohnheiten erkennen – etwa das ständige Kontrollieren des Handys, unbewusstes Zähneknirschen oder sich immer wieder unterbrechen lassen.
  • Stressreaktionen bemerken – wie schnelleres Sprechen, gereizter Tonfall oder das Übergehen von Pausen in hektischen Phasen.
  • Soziales Verhalten beobachten – zum Beispiel, ob Sie anderen ins Wort fallen, sich zurückziehen oder Konflikten ausweichen.
  • Entscheidungsmuster erkennen – etwa ob Sie spontan handeln, lange zögern oder Entscheidungen immer delegieren.

Verhaltenswahrnehmung ist deshalb so wichtig, weil viele Handlungen im Alltag automatisch ablaufen. Erst wenn Sie sie bewusst wahrnehmen, können Sie sie gezielt verändern – zum Beispiel ungesunde Gewohnheiten abbauen, hilfreiche Routinen aufbauen oder in schwierigen Situationen anders reagieren.


Wie läuft eine Selbstwahrnehmungs-Übung ab?

Selbstwahrnehmung funktioniert wie ein innerer Beobachtungsprozess. Sie richten die Aufmerksamkeit bewusst auf das, was in Ihrem Inneren gerade passiert: körperlich, emotional, gedanklich und im Verhalten, ohne sofort zu bewerten oder zu reagieren.

Vereinfacht gesagt läuft sie in drei Schritten ab:

  • Aufmerksamkeit nach innen lenken
    Sie halten inne und richten den Fokus nach innen, statt sich ausschließlich auf äußere Reize oder Aufgaben zu konzentrieren.
    Das kann spontan im Alltag geschehen oder gezielt durch Übungen wie Atembeobachtung, Körperscan oder Achtsamkeitsübungen.
  • Wahrnehmen und Benennen
    Sie registrieren, was da ist: z. B. Muskelspannung, ein Gefühl von Ärger, ein schneller Herzschlag, ein Gedanke wie „Das wird schiefgehen“.
    Benennen („Ich spüre Anspannung im Nacken“ oder „Ich merke, dass ich angespannt bin“) macht die Erfahrung klarer und bewusster.
  • Akzeptieren und Einordnen
    Sie lassen die Wahrnehmung zunächst so stehen, ohne sie sofort zu verändern oder zu bewerten.
    In einem weiteren Schritt können Sie überlegen, welche Bedeutung sie hat und wie Sie sinnvoll darauf reagieren (zum Beispiel: eine Pause machen, die Haltung ändern, den Gedankengang prüfen).
    Dieser Schritt hat mit der Selbstwahrnehmung selber erst einmal nichts mehr zu tun.

Welche Tools können Sie z. B. für die Selbstwahrnehmung benutzen?

Es gibt verschiedene Ansätze, die für die Selbstwahrnehmung verfolgt und benutzt werden können. Darunter fallen zum Beispiel:

  • der Atem-Check
    Mehrmals am Tag kurz innehalten und beobachten: Ist die Atmung flach oder tief? Schnell oder ruhig?
    – das schafft den Einstieg ins Spüren, weil Atmung ein direkter Indikator für Anspannung ist.
  • das Führen eines Gefühls-Tagebuches
    Täglich kurz notieren: „Was fühle ich gerade körperlich? Was emotional?“
    – das hilft, Zusammenhänge zwischen Stimmung, Stress und Schmerz zu erkennen.
  • der Körper-Scan
    Augen schließen, den Körper gedanklich von Kopf bis Fuß durchgehen und Verspannungen, Wärme, Kälte oder zum Beispiel Schmerzstellen wahrnehmen.
    Wichtig! Nur beobachten, nicht sofort verändern wollen.
  • Mini-Pausen mit Achtsamkeit
    Mehrmals am Tag für 30–60 Sekunden innehalten und alle Sinneseindrücke bewusst registrieren (Geräusche, Gerüche, Körperkontakt mit Stuhl oder Boden).
  • selbstreflektierende Fragen
    „Was brauche ich gerade?“
    „Wo spüre ich im Körper Anspannung?“
    „Was war heute ein kleiner Moment des Wohlfühlens/der Freude?“

Wichtig! Selbstwahrnehmung ist wie ein Muskel – sie wird stärker, wenn Sie sie regelmäßig trainieren.
Ziel ist nicht, alles perfekt zu spüren, sondern sich selbst besser zu verstehen und dadurch gezielter handeln zu können.


Typische Fehler und Hindernisse

Auch wenn Selbstwahrnehmung grundsätzlich jedem Menschen zur Verfügung steht, fällt sie im Alltag oft schwerer als gedacht. Zwischen ständiger Ablenkung, innerem Druck und unbewussten Gewohnheiten schleichen sich schnell Stolperfallen ein, die den Zugang zu den eigenen Empfindungen blockieren. Wenn Sie diese Hindernisse kennen, können Sie sie leichter erkennen und gezielt Strategien entwickeln, um trotzdem klar und präsent mit sich selbst in Kontakt zu bleiben.

  • Ablenkung durch Multitasking
    Sie checken nebenbei E-Mails, hören Musik und versuchen gleichzeitig, in sich hinein zu spüren.
    – Das Gehirn bleibt dabei an der Oberfläche und echte Wahrnehmung findet kaum statt.
  • Angst vor unangenehmen Gefühlen
    Viele vermeiden bewusstes Hinschauen, weil sie befürchten, Traurigkeit, Angst oder Wut stärker zu spüren.
    – Dadurch bleiben diese Gefühle oft unbemerkt, wirken aber im Hintergrund weiter.
  • Zu starkes Bewerten statt Beobachten
    Statt zu registrieren „Mein Herz schlägt schneller“, denken Sie sofort „Oh nein, das ist bestimmt etwas Schlimmes“.
    – Das blockiert die neutrale Wahrnehmung.
  • Ungeduld
    Wer erwartet, dass Selbstwahrnehmung nach zwei Versuchen perfekt klappt, gibt schnell auf.
    – Wie ein Muskel braucht sie jedoch Zeit und Training.
  • Ablenkung durch äußere Reize
    Lärm, Smartphone, Social Media oder ständige Unterbrechungen lassen die Aufmerksamkeit nach außen springen.
    – Das verhindert, dass Sie den inneren Zustand klar erkennen.
  • Selbstkritik
    Statt freundlich auf sich zu schauen, wird jedes Gefühl oder jeder Gedanke sofort als „falsch“ oder „schwach“ abgewertet.
    – Das führt dazu, dass Sie weniger wahrnehmen.
  • Verwechslung mit Grübeln
    Sie halten langes Nachdenken über Probleme für Selbstwahrnehmung.
    – Tatsächlich drehen Sie sich aber nur in gedanklichen Endlosschleifen.
  • Mechanisches „Abarbeiten“
    Sie spulen Körperscan oder Achtsamkeitsübungen nur wie eine Checkliste herunter.
    – Dadurch fehlt die echte Präsenz und damit der Nutzen.
  • Fokus nur auf einen Bereich
    Manche achten nur auf körperliche Signale, andere nur auf Gedanken.
    – Eine ganzheitliche Selbstwahrnehmung umfasst alle Ebenen.
  • Überspringen des Benennens
    Viele spüren zwar etwas, benennen es aber nicht.
    – Ohne Benennung bleibt die Wahrnehmung oft vage und schwer einzuordnen.
  • Traumata können die Wahrnehmung hindern
    Manche Menschen sind überhaupt nicht in der Lage, in die Wahrnehmung zu gehen. Trotz aller Versuche ist es ihnen nicht möglich.
    – Es kann sein, dass in diesen Fällen ein Trauma dahinter steckt.

Sollte es bei Ihnen so sein, dass Sie es überhaupt nicht schaffen, in die Wahrnehmung zu kommen, dann haben Sie keine Scheu, mich anzusprechen. Wir können gemeinsam schauen, einen Weg für Sie zu Wahrnehmungsübungen zu finden.


Selbstwahrnehmung oder Selbstbewusstsein?

Selbstwahrnehmung bedeutet, die eigenen Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Verhaltensmuster klar zu erkennen und zu verstehen.
Selbstbewusstsein (im Sinne von Selbstvertrauen) hingegen beschreibt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und den eigenen Wert.

Während Selbstwahrnehmung die Grundlage bildet, um sich realistisch einzuschätzen, wächst Selbstbewusstsein daraus:
Wer sich selbst gut kennt, kann Entscheidungen sicherer treffen, mit Herausforderungen gelassener umgehen und authentisch auftreten.
Ohne Selbstwahrnehmung läuft Selbstbewusstsein Gefahr, auf falschen Annahmen zu beruhen.
Mit Selbstwahrnehmung wird Selbstbewusstsein stabil und tragfähig.


Wie wichtig ist Selbstwahrnehmung für chronische Schmerzpatienten?

Für chronische Schmerzpatienten ist Selbstwahrnehmung weit mehr als eine hilfreiche Zusatzfähigkeit. Sie ist ein zentrales Werkzeug im Umgang mit der Erkrankung.
Schmerzen sind oft nicht nur das Ergebnis einer einzelnen körperlichen Ursache, sondern werden von vielen Faktoren beeinflusst, etwa Stress, Schlafqualität, Bewegung, Ernährung und emotionaler Zustand.
Wenn Sie gelernt haben, den eigenen Körper, die Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen, können Sie diese Wechselwirkungen besser erkennen. So wird beispielsweise klar, ob ein Anstieg der Schmerzen mit einer bestimmten Belastung, einer unbewussten Schonhaltung oder einem emotionalen Auslöser zusammenhängt.

Diese Erkenntnisse eröffnen Handlungsspielräume: Sie können gezielter gegensteuern, rechtzeitig Pausen einlegen, Entspannungsübungen einsetzen oder belastende Gedanken hinterfragen.
Zudem unterstützt Selbstwahrnehmung eine aktivere Rolle in der Therapie. Patienten können ihrem Behandlungsteam präzisere Rückmeldungen geben, was die Wirksamkeit von Maßnahmen verbessert.

Langfristig fördert eine gute Selbstwahrnehmung auch das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit, was bei chronischen Schmerzen entscheidend ist, um nicht in Passivität oder Hilflosigkeit zu geraten. So wird sie zu einem wichtigen Schlüssel für mehr Lebensqualität trotz Schmerzen.


Langfristige Wirkung

Regelmäßige Selbstwahrnehmungsübungen verändern nachweislich nicht nur das subjektive Erleben, sondern auch die Struktur und Funktion des Gehirns.
Neuroimaging-Studien zeigen, dass sich bei kontinuierlichem Training die Verbindung zwischen präfrontalem Cortex (dem Gehirnteil, das für Planung, Entscheidungen und Selbstkontrolle zuständig ist) und dem limbischen System (dem Gefühlszentrum im Gehirn) verbessert. Das führt zu einer stabileren Emotionsregulation und einer geringeren Stressreaktivität.
Gleichzeitig steigt die Aktivität im Insularkortex (einer Gehirnregion, die wesentlich für die Körperwahrnehmung zuständig ist).

Auf psychologischer Ebene bedeutet das:
Menschen, die über längere Zeit bewusst ihre Gedanken, Gefühle und Körpersignale wahrnehmen, erkennen Überlastung früher, vermeiden schädliche Routinen eher und treffen Entscheidungen klarer, weil sie Bedürfnisse und Grenzen besser einschätzen können.
Langfristig entsteht so eine Art „innere Stabilität“, eine Mischung aus mehr Gelassenheit, höherer Stressresilienz und einer gestärkten Fähigkeit, in schwierigen Situationen bewusst zu handeln, statt automatisch zu reagieren.


1 Gedanke zu „Was ist… Selbstwahrnehmung?“

  1. Pingback: Gelassener werden – Progressive Muskelentspannung verstehen und erleben – Alexandra Winkens

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